Gotthard Schuh – Eine Art Verliebtheit
Gotthard Schuh – Eine Art Verliebtheit
Gotthard Schuh (1897–1969) zählt zu den herausragenden Fotografen des 20. Jahrhunderts. Er ist nicht nur ein Pionier des modernen Fotojournalismus, er hat auch einen persönlichen Stil gefunden, der dem «poetischen Realismus» zugerechnet werden kann. Schuh war sich bewusst, dass die fotografische Sicht auf die Welt immer subjektiv bleibt und dass der Fotograf vollkommen in einer bestimmten Situation aufgehen muss, um sie intuitiv zu erfassen. Vierzig Jahre nach Gotthard Schuhs Tod hat die Fotostiftung Schweiz den von ihr betreuten Nachlass des Fotografen neu gesichtet und aufgearbeitet. Die Retrospektive, die von einer umfangreichen Monografie begleitet wird, würdigt vor allem den subjektiven Blick, der seinen Bilderkosmos im Innersten zusammenhält – das, was er selbst als «eine Art Verliebtheit» bezeichnete.
Von der «neuen fotografie» zur Reportage
Gotthard Schuh kam autodidaktisch zur Fotografie. Er hatte bereits eine 13-jährige Karriere als Maler hinter sich, als er um 1930 die Kamera als Ausdrucksmittel entdeckte. Dabei liess er sich von der damaligen Aufbruchstimmung rund um die «neue fotografie» mitreissen: In seinen ersten Veröffentlichungen spielten optische Effekte und prägnante Gestaltung eine wichtige Rolle. Schuh beschäftigte sich aber auch mit den Sensationen des Alltäglichen – unspektakulären Szenen, die voller Geheimnisse sind und so viel Spannung erzeugen wie der erste Satz einer Erzählung. Mit diesem Ansatz fand er einen Einstieg in den Fotojournalismus, der in den frühen dreissiger Jahren einen deutlichen Modernisierungsschub erlebte. In der Schweiz setzte die Zürcher Illustrierte (ZI) unter Arnold Kübler neue Massstäbe. Ab 1932 gehörte Gotthard Schuh, zusammen mit Hans Staub und Paul Senn, zu Küblers Vorzeige-Reportern.
Neben fotojournalistischen Arbeiten im engeren Sinn machte Schuh immer wieder Bilder, in denen das Auge und die Sensibilität des früheren Malers zu erkennen sind. Schon bald nach seinem Einstieg in die Fotografie distanzierte er sich wieder von den avantgardistischen Tendenzen, um eine eigene, sinnliche Bildsprache zu entwickeln. Vor allem in Paris liess er sich vom pulsierenden Leben der Grossstadt inspirieren. Er hielt nächtliche und zwielichtige Situationen fest, suchte Bewegung und verfliessende Konturen, tauchte in feminine Welten ein, liess sich vom Eros treiben. Strassenszenen gehörten zu seinen bevorzugten Themen, und sein Interesse galt der Atmosphäre, dem emotionalen Ausdruck oder der Psychologie des Augenblicks.
Die Reise nach Asien – und nach Innen
1941, nach rund zehnjähriger Tätigkeit an vorderster Front, zog sich Gotthard Schuh aus dem hektischen Reporterleben zurück und wurde erster Bildredaktor der Neuen Zürcher Zeitung. Zusammen mit Edwin Arnet gründete er die NZZ-Beilage «Das Wochenende», die bald zu einem vielbeachteten Forum für Fotografie wurde. Hier konnte er, neben eigenen Reportagen, die Arbeiten junger Talente sowie international herausragender Fotografen präsentieren. Einen bedeutenden Teil seines fotografischen Schaffens liess er aber von dieser Zeit an in Bücher und Bildbände einfliessen. Die bekannteste, mit 13 Auflagen erfolgreichste Publikation erschien 1941 unter dem Titel Inseln der Götter: Darin zeigte Schuh die Aufnahmen, die er unmittelbar vor dem Krieg von einer elfmonatigen Reise nach Singapur, Java, Sumatra und Bali nach Hause gebracht hatte. Was sich vordergründig als blosse Flucht in eine paradiesische, von verführerischen Frauen bewohnte Gegend lesen lässt, erweist sich bei genauer Lektüre auch als eine gelungene Mischung aus Berichterstattung und Selbstbeobachtung, als eine Reise nach Innen.
«Jeder sieht nur, was seinem Wesen entspricht»
Im Buch Inseln der Götter stufte Gotthard Schuh den poetischen Gehalt seiner Fotografien zum Teil höher ein als ihre dokumentarische Authentizität. Aber auch später benutzte er die Kamera immer wieder, um seinen Fantasien und Gefühlen Ausdruck zu verleihen – im Wissen darum, dass die Bilder der äusseren Welt mit den inneren Bildern korrespondieren: «Jeder bildet nur ab, was er sieht, und jeder sieht nur das, was seinem Wesen entspricht.» Am deutlichsten manifestiert sich dieses Credo 1956 im Buch Begegnungen, worin Schuh ältere und jüngere Bilder in freier, assoziativer Komposition zu einem neuen, in sich geschlossenen Werk zusammenfügte. Mit Begegnungen folgte Schuh den Zielsetzungen des «Kollegiums Schweizerischer Fotografen», das 1950 von Gotthard Schuh, Paul Senn, Walter Läubli, Werner Bischof und Jakob Tuggener und gegründet worden war. Diese lose Gruppierung herausragender Fotografen propagierte eine Fotografie, welche die Handschrift des Autors und die künstlerische Gestaltung ins Zentrum rückte. Innerhalb des «Kollegiums» zeichnete sich Schuh dadurch aus, dass seine Bilder häufig aus einem Akt des leidenschaftlichen Sich-Verlierens und Sich-Verliebens entstanden, mit fliessenden Übergängen zwischen Traum und Wirklichkeit. Aufschlussreich sind in dieser Hinsicht seine Darstellungen von Frauen und Liebespaaren. Noch in den fünfziger Jahren griff Schuh manchmal auf Bildideen zurück, mit denen er sich als Maler schon in den zwanziger Jahren beschäftigt hatte. Dabei scheute er sich nicht, gewisse Szenen zu arrangieren, um seinen Vorstellungen möglichst nahe zu kommen. Auf diese Weise gelangen ihm lyrische Verdichtungen, die bis heute ihre Gültigkeit bewahrt haben.
Anlässlich der Ausstellung erschien eine Publikation, herausgegeben von Peter Pfrunder in Zusammenarbeit mit Gilles Mora.