Henriette Grindat / Albert Camus / René Char – La Postérité du soleil
Henriette Grindat / Albert Camus / René Char – La Postérité du soleil
Das Werk von Henriette Grindat (1923–1986) nimmt in der Schweizer Fotogeschichte eine besondere Position ein. Während viele ihrer Kolleg:innen in den 1950er-Jahren einen sachlichen Stil vertraten und engagierte Reportagen für die auflagenstarken Magazine lieferten, entwickelte Grindat eine sehr subjektive, vom Surrealismus geprägte Bildsprache. Ihre künstlerische Ausdrucksstärke kann mit der des modernistischen Schweizer Fotografen Jakob Tuggener (1904–1988) verglichen werden, doch ihr Name ist – besonders in der Deutschschweiz – immer noch wenig bekannt. Grindats Nachlass befindet sich in der Fotostiftung Schweiz, wo er umfassend aufgearbeitet und 2008 in einer retrospektiven Ausstellung mit begleitender Publikation präsentiert wurde. Am 3. Juli 2023 wäre Henriette Grindat 100 Jahre alt geworden. Die Fotostiftung Schweiz nimmt dieses Jubiläum zum Anlass, eine wichtige Arbeit der Fotografin, die sie gemeinsam mit den Dichtern Albert Camus und René Char geschaffen hat, zu beleuchten.
Nach ihrer Ausbildung an der Fotoschule von Gertrude Fehr in Lausanne und Vevey sucht Henriette Grindat den Austausch mit Künstler:innen und Literat:innen – zwischenzeitlich auch in Paris. Dort begegnet sie 1949 ihrem späteren Ehemann, dem Schweizer Radierer Albert-Edgar Yersin (1905–1984), und lernt den französischen Dichter René Char (1907– 1988) kennen, dessen Texte sie bewundert. In den 1930er-Jahren gehörte Char zum weiteren Kreis der Surrealisten, während des Zweiten Weltkriegs kämpfte er als Maquisard im Widerstand. Die Erfahrung der Résistance teilt er mit dem Schriftsteller Albert Camus (1913–1960). Ab 1946 verbindet die beiden Dichter eine Freundschaft und ihre Liebe zur Region Vaucluse in der Provence. Char stammt aus L’Isle-sur-la-Sorgue,einem Städtchen östlich von Avignon, wo er nach dem Krieg einen Wohnsitz hat; Camus mietet zeitweise ein Landhaus in der Gegend.
La Postérité du soleil
Beeindruckt von Grindats Bildern entsteht der Plan, mit Fotografien und Texten die Stimmung jener Landschaft wiederzugeben, die Camus offenbar an seine Heimat in Algerien erinnert. 1950 unternimmt Henriette Grindat in Begleitung von Char Streifzüge in und um L’Isle-sur-la-Sorgue. Sie fotografiert intuitiv, tastet Oberflächen von Vegetation, Topografie und Bauwerken ab, findet stille Szenen, die sich von Zeit und Ort loszulösen scheinen. 1952 verfasst Camus zu 30 ihrer Aufnahmen kurze poetische Absätze, die subtilste Details reflektieren. Das Zusammenspiel ist aussergewöhnlich: Die Sprache wächst aus den Bildern und erschliesst in ihnen eine neue Dimension. Dennoch lässt sich für dieses Gemeinschaftswerk mit dem Titel La Postérité du soleil (dt.: Die Nachkommen der Sonne) zunächst kein Verlag finden. Erst nach dem Tod von Camus (1960) regt sich Interesse an dem unveröffentlichten Werk. 1965 produziert der Genfer Verleger Edwin Engelberts ein grossformatiges Portfolio mit Silbergelatine-Abzügen von Grindats Fotografien, Camus Texten und einem Vorwort von Char. Als Buch erscheint La Postérité du soleil erst 1986, im Jahr, in dem Henriette Grindat sich das Leben nimmt, und zwei Jahre vor dem Tod von René Char.
In der Ausstellung sind die Blätter des Portfolios von 1965 zu sehen. Die dazugehörigen französischen Originaltexte von Albert Camus wurden für die Ausstellung erstmals umfassend auf deutsch übersetzt.