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Fotostiftung Schweiz
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Lucia Moholy – Exposures

Jugend in Prag
Lucia Moholy wurde am 18. Januar 1894 als Lucie Schulz geboren und wuchs in einem tschechisch-deutschen jüdischen Haushalt in Prag auf. Ihre Familie war gut situiert und ermöglichte den drei Kindern den Besuch höherer Schulen.Lucie nahm Klavierunterricht und Französischstunden. Nach einer Ausbildung zur Englischlehrerin arbeitete sie in der Anwaltskanzlei ihres Vaters und besuchte an der Prager Charles-Ferdinand-Universität Vorlesungen in Kunstgeschichte und Philosophie. In den Tagebüchern ihrer Jugendzeit finden sich Notizen zu Ausstellungs- und Theaterbesuchen, Tanzkarten und Einladungen zu Hochzeitsfesten, aber auch gezeichnete Stillleben, Zitate von Thomas Mann, Leo Tolstoi und Auguste Rodin sowie Noten einer Beethovensonate. Lucia Moholy schrieb Zeit ihres Lebens immerwieder Tagebuch.

Bekanntschaft mit László Moholy-Nagy
1915 verliess Lucie Schulz ihre Heimatstadt Prag, arbeitete für die Wiesbadener Zeitung und als Lektorin in verschiedenen Verlagen, unter anderem bei Rowohlt. Sie engagierte sich im Umfeld deutscher Reformbewegungen und erlebte 1919 die Bremer Räterepublik mit. Nachdem diese vom Militär der Reichsregierung gewaltsam beendet wurde, veröffentlichte Lucie Schulz unter dem Pseudonym Ulrich Steffen ein Gedicht zum Entwurf eines Denkmals für die Opfer. In Berlin lernte sie den ungarischen Künstler László Moholy-Nagy kennen, den sie 1921 heiratete. Neben ihrem pazifistisch und linksaktivistisch geprägten politischen Engagement teilten die beiden ein Interesse für die neuen technischen Reproduktionsverfahren. Der programmatische Essay mit dem Titel Produktion – Reproduktion, der 1922 in der niederländischen Zeitschrift De Stijl erschien, wurde lange László Moholy-Nagy alleine zugeschrieben, beruhte aber auf enger Zusammenarbeit mit Lucia Moholy. Auch die Experimente mit der kameralosen Fotografie begannen als gemeinsames Projekt: Bei einem Besuch in der Loheland Schule für Körperbildung, Landbau und Handwerk in der Nähe von Fulda sahen die beiden Fotogramme von Bertha Günther. Die Tänzerin und spätere Eurythmielehrerin hatte zwischen 1920 und 1922 Gräser und Blüten auf lichtempfindliches Papier gelegt und die hellen Schatten festgehalten. In ihrer Berliner Dunkelkammer begannen Lucia Moholy und László Moholy-Nagy Günthers Vorgehensweise nachzuahmen und entwickelten die Technik des Fotogramms weiter.

Weimar und Dessau 
1923 zog das Paar nach Weimar und 1926 nach Dessau: Während László Moholy-Nagy als Meister am Bauhaus lehrte, wurde Lucia Moholy nach kurzer Lehrzeit beim Weimarer Fotografen Hermann Eckner zur Fotografin der Schule – an der es bis 1929 keine fotografische Abteilung gab. Moholy dokumentierte die Designobjekte aus den Werkstätten und die von Walter Gropius entworfenen Dessauer Bauten Moholys klar komponierte Aufnahmen von Kaffeekannen, Lampen und Möbeln, von der Baustelle und den fertiggestellten «Meisterhäusern» samt Interieurs prägten die Wahrnehmung des Bauhauses massgeblich; ihre Porträts von Lehrenden und Studierenden sind mit ihren engen Ausschnitten, starken Kontrasten und Unschärfen eindrucksvolle Beispiele für die fotografischen Stilmittel des «Neuen Sehens». Neben ihrer fotografischen Arbeit, für die sie sich in einem Studienjahr an der Leipziger Akademie für graphische Künste und Buchgewerbe weiter ausbilden liess, betreute Lucia Moholy die Veröffentlichung der von Walter Gropius und László Moholy-Nagy herausgegebenen Bauhausbücher.

Berlin
1928 kehrte Lucia Moholy nach Berlin zurück und trennte sich ein Jahr später von ihrem Ehemann. Auf Einladung des Schweizer Malers und Kunsttheoretikers Johannes Itten, der von 1919 bis 1923 am Weimarer Bauhaus gelehrt und 1926 in Berlin eine eigene Kunstschule gegründet hatte, begann Lucia Moholy Fotografie zu unterrichten. Eine ihrer Schülerinnen an der Itten-Schule war die aus Zürich stammende Binia Spoerri (nach der Heirat mit Max Bill unter dem Namen Binia Bill bekannt). Auch als Fotojournalistin versuchte sich Lucia Moholy: 1928 dokumentierte sie in Prag den International Congress for Drawing, Art Education, and Applied Arts, über den sie anschliessend in der niederländischen Zeitschrift i10 berichtete. Bei einer Reise durch das damalige Königreich Jugoslawien wiederum hielt sie 1932 das Alltagsleben fest, fotografierte Landschaften und Architektur. Ihre Aufnahmen präsentierte sie bei Vorträgen und veröffentlichte sie später in englischsprachigen Zeitschriften.

London
1933 wurde Lucia Moholys Partner, der Reichstagsabgeordnete der KPD und Widerstandskämpfer Theodor Neubauer, in ihrer Wohnung verhaftet. In Sorge um ihre eigene Sicherheit entschloss sie sich, Deutschland schnellstmöglich zu verlassen. Ihre Glasplattennegative liess sie bei ihrer überstürzten Abreise zurück. Als sie 1934 in London ansässig wurde, sah sie sich zu einem Neuanfang gezwungen. Sie eröffnete ein Fotostudio am Mecklenburgh Square 39, wo sie auch eine Wohnung fand. Zu ihren Nachbarn gehörten die Schriftstellerin Virginia Woolf und John Lehmann, Herausgeber von The Geographical Magazine. Lucia Moholy porträtierte Mitglieder der Bloomsbury Group und andere bekannte Künstler:innen, Wissenschaftler:innen und Intellektuelle, von denen viele sich in der antifaschistischen Bewegung Grosbritanniens engagierten.

Dokumentationsdienste
Nachdem ihr Fotoatelier bei Bombardierungen zerstört worden war, wendete sich Lucia Moholy mit verstärktem Interesse den Möglichkeiten des Mikrofilms zu, mit denen sie sich in ihren Publikationen zur Fotografie bereits auseinandergesetzt hatte. Ihre Zusammenarbeit mit dem aus Wien stammenden Pädagogen und Wissenschaftsphilosophen Otto Neurath führte dazu, dass sie zur Direktorin des Microfilm Service von ASLIB (Association of Special Libraries and Information Bureaux) ernannt wurde, der während des Krieges im Victoria and Albert Museum stationiert war. Später baute Moholy ihre eigene Beratungsstelle auf, die sie «Documentary Services» nannte. Aufgrund ihrer weitreichenden Kenntnisse der Mikrofilmtechnik wurde Moholy ab 1954 eingeladen, ihre Forschungsergebnisse auf der photokina in Köln zu präsentieren – einer der grössten Messen für bildgebende Verfahren. In den 1960er-Jahren schrieb sie über das Potenzial des Mikrofilms als Speicher für elektronische Daten, die Automatisierung der Datenerfassung sowie computerbasierte Übersetzungen.

Ankara
In den frühen 1950er-Jahren wurde Lucia Moholy aufgrund ihrer Erfahrung mit Mikrofilm technische Expertin der UNESCO. Von 1952 bis 1953 hielt sie sich sechs Monate in Ankara auf, wo sie für die Nationalbibliothek ein Mikrofilm-Dokumentationszentrum samt Labor einrichtete. 1955-56 kehrte sie zurück, um unter anderem die Archivierung wertvoller Handschriften zu koordinieren. Während ihres Aufenthalts in der Türkei fotografierte Moholy auch und begann einen Entwurf für ein Buch über den kulturellen, sozialen und technischen Wandel in der Türkei. An diesem Projekt arbeitete sie unabhängig von ihrem UNESCO-Auftrag; zu einer Publikation kam es nie.

The Missing Negatives
Nach Ende des Zweiten Weltkriegs hatte Lucia Moholy wieder Zugang zu Publikationen aus dem Ausland und entdeckte zu ihrem Befremden viele ihrer Fotografien in neu erschienenen Büchern und Zeitschriften. So auch im Katalog zur umfassenden Bauhaus-Ausstellung, die 1938 im Museum of Modern Art in New York von Walter Gropius, Ise Gropius und dem ehemaligen Bauhaus-Lehrer Herbert Bayer organisiert worden war. Abgedruckt sind Reproduktionen jener Glasnegative, von denen Moholy angenommen hatte, dass sie während des Krieges verloren gegangen oder zerstört worden waren. Ihr Name wurde im Katalog nicht einmal erwähnt. Nach dieser Entdeckung startete Moholy umfangreiche Recherchen, um die Glasnegative aufzuspüren und erfuhr schliesslich, dass Walter Gropius sie mitgenommen hatte, als er über London in die USA emigriert war. Bis in die 1950er-Jahre leugnete Gropius gegenüber Moholy, ihre Glasnegative zu besitzen; später weigerte er sich, sie zurückzugeben. Nach jahrelangen juristischen Verhandlungen erhielt Lucia Moholy 1957 eine grosse Anzahl ihrer Negative zurück – 330 blieben vermisst. Diese Auseinandersetzung beschrieb sie rückblickend als «eine erschütternde Erfahrung». Heute befinden sich 230 der 560 Negative, die Gropius mit sich in die USA genommen hatte, im Bauhaus-Archiv in Berlin. 50 Glasplatten wurden in der Moholy-Nagy Foundation in Ann Arbor, Michigan, identifiziert; darunter Lucia Moholys Porträts von László Moholy-Nagy, Aufnahmen von seinen Bühnenbildern und Reproduktionen seiner Fotogramme, Kollagen und Gemälde. Gemäss Moholys Kartothek fehlen also immer noch 280 Negative.

Zürich
1959 zog Lucia Moholy nach Zürich, um am internationalen und mehrsprachigen Handbuch Who’s Who in Graphic Arts des Zürcher Verlags Amstutz & Herdeg Graphis Press mitzuarbeiten. Für englischsprachige Zeitschriften wie The Burlington Magazine schrieb sie weiterhin Rezensionen, nun über Ausstellungen in Zürich. Sie bemühte sich, die Freundschaft zu dem in Zürich ansässigen Architekturhistoriker Sigfried Giedion wieder aufleben zu lassen. In den 1920er-Jahren waren Lucia Moholy und László Moholy-Nagy mit Carola Giedion-Welcker und Sigfried Giedion in engem Austausch gewesen. Der Briefwechsel legt allerdings dar, wie Sigfried Giedion unbeirrt das Verhalten seines Freundes Walter Gropius verteidigte und wie sich Moholy schliesslich enttäuscht von ihm abwandte. Nach seinem Tod traf sie sich regelmässig mit der Kunsthistorikerin Carola Giedion Welcker und der Tänzerin Marietta von Meyenburg im Café des Kunsthaus Zürich.

Späte Anerkennung
1972 legte Lucia Moholy in der schlanken und pointierten Publikation Marginalien zu Moholy-Nagy: dokumentarische Ungereimtheiten ihre Perspektive auf die Rezeption des Bauhauses dar. Sie versuchte, einige fehlerhafte Überlieferungen richtigzustellen und ihren Beitrag zu den Texten und Fotografien von László Moholy-Nagy aufzuzeigen. In Zusammenarbeit mit dem Schweizer Fotografen Giorgio Hoch begann sie, neue Abzüge von ihren Negativen herzustellen, die 1978 auf der photokina in Köln zum ersten Mal ausgestellt wurden. Die Zürcher Galerie Ziegler würdigte das fotografische Werk von Lucia Moholy 1981 mit einer Einzelausstellung, vier Jahre später erschien die reichhaltige Monografie von Rolf Sachsse. Auch die junge, in Zürich lebende Kunsthistorikerin Angela Thomas setzte sich für die Anerkennung von Lucia Moholy als Fotografin und emanzipierte Protagonistin des 20. Jahrhunderts ein.

Lucia Moholy und die Fotostiftung Schweiz
In der Zürcher Kunstszene war Lucia Moholy eine bekannte Persönlichkeit. Porträtaufnahmen von Thomas Burla, Gaechter & Clahsen, Giorgio Hoch, Vera Isler, Hans Peter Klauser und Niklaus Stauss zeigen die «grande dame» bei Veranstaltungen oder in ihrer Wohnung in Zollikon. Anlässlich der Ausstellung The Concerned Photographer, die im Centre Le Corbusier gezeigt wurde und in deren Nachhall die Stiftung für die Photographie (heute: Fotostiftung Schweiz) offiziell gegründet wurde, nahm Lucia Moholy an einer Gesprächsrunde teil. Für The Burlington Magazine schrieb sie ausserdem eine Besprechung der für die Fotostiftung wegweisenden Ausstellung Photographie in der Schweiz – 1840 bis heute. Walter Binder, der damalige Direktor der Stiftung, besuchte Lucia Moholy 1984 und bot ihr Hilfe bei der Archivierung ihrer Fotografien an. 1986 konnte er 25 Abzüge für die Sammlung der Fotostiftung erwerben. Diese wurden 1991 – drei Jahre nach Lucia Moholys Tod – durch eine grosszügige Schenkung aus ihrem Nachlass ergänzt.

Lucia Moholys letzter Wille
Der Anwalt Dr. Fritz Karsten aus London, der wie Lucia Moholy aus Tschechien stammte, war verantwortlich für die Vollstreckung ihres Testaments. Sie hatte 1973 festgehalten, dass der Ertrag ihres literarischen Nachlasses in gleichen Teilen und anonym an folgende Institutionen gehen solle: das Schweizerische Komitee für UNICEF, Zürich; die Flüchtlingshilfe der British Red Cross Society und das International Rescue Committee, New York. Für ihre Negative und Abzüge hatte sie keine konkreten Anweisungen gegeben, jedoch angeordnet, dass alle persönlichen Dokumente verbrannt werden sollten, darunter alle privaten Fotografien sowie ihre Manuskripte. Die grosse öffentliche Aufmerksamkeit, die Lucia Moholys Tod erregte, sowie das Plädoyer von Rolf Sachsse überzeugten den Anwalt, dass den Anweisungen im Testament nicht Folge geleistet werden dürfe. Daraufhin wurde Lucia Moholys Archiv aufgeteilt: Was die Jahre vor 1933 betraf, wurde ins Bauhaus-Archiv gegeben. Ein grosser Bestand der Londoner Porträtaufnahmen wurde der National Portrait Gallery geschenkt. Die Schweizer Fotografin Olivia Heussler dokumentierte 1991 im Auftrag ihres Patenonkels, der als Anwalt mit weiteren Hinterlassenschaften von Lucia Moholy zu tun hatte, deren Kameraausrüstung. Im August 2022 fotografierte Jan Tichy den Stein von Lucia Moholys Urnengrab; wenige Monate später wurde dieses aufgehoben – ganz ohne öffentliche Aufmerksamkeit.