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Fotostiftung Schweiz
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Ruth Erdt – Die Lügner

02.10.2010–13.02.2011
Fotostiftung Schweiz
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Ruth Erdt – Die Lügner

02.10.2010–13.02.2011
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Am Dokumentarischen wenig interessiert, sieht Ruth Erdt die Fotografie als Fiktion. In ihren Augen vermitteln ihre Bilder nur eine vage Ahnung der Realität, weshalb sie feste Sehkonventionen umzustürzen sucht, indem sie andere, schwer zugängliche, schlecht oder zumindest nicht mit den üblichen Codes zu entschlüsselnde Bilder vorlegt. Sie glaubt an die Unmittelbarkeit des Bildes, an ein Bild, dessen emotionaler Gehalt sich direkt, ohne Umweg über den Intellekt, von den Augen auf den Körper überträgt. Ihre Fotografien, die Einblicke in ihr Privatleben gewähren, ihre Nächsten und ihr Lebensumfeld zeigen, entstehen nicht aus dem Bestreben heraus, ein Leben in der Familie zu enthüllen, sei es real oder fiktiv, sondern eher, um einen anderen Blick auf die Welt zu gewinnen. Von Anfang an geht es bei ihr um eine «Gegenwelt», eine Parallelwelt, die es wahrnehmbar zu machen gilt, ohne sie tatsächlich offenzulegen.

Schon früh beginnt die Zürcher Künstlerin und Fotografin Ruth Erdt Bilder aufzunehmen, doch werden diese nie Eingang in ein Archiv finden. Von allen unbemerkt, fotografiert sie während mehrerer Jahre allein mithilfe ihrer Vorstellungskraft, davon angetrieben, sich von der Realität nicht zu sehr einengen zu lassen: «Ich war um die 12 Jahre alt, als ich mir einen Fotoapparat phantasierte. Diese erdachte Kamera war mit meinem Kopf verbunden, jederzeit einsetzbar, und ‚fotografierte‘ Bilder in dem von mir verlangten Augenblick und Blickwinkel. Es war ein Apparat mit einem Fokus ausserhalb meiner Selbst. Auf den ersten Bildern war oft ich selbst abgebildet. Es ging mir weniger darum ein Bild zu sehen, als ein Bild zu ‚empfinden‘. Der Augenblick, in dem ich abdrückte, wirkte in irgendeiner Art aussergewöhnlich, ein Stolpern im Ablauf des Tages, eine Verlangsamung, ein toter Punkt, der das Bild ins Hirn ätzte. Zu den anfänglichen Selbstportraits kamen neue Bilder, die Gegenstände in einem rätselhaften Licht zeigten, oder Bilder von Menschen, mit denen ich mich verbinden wollte, verbunden fühlte. Es gab keine Eingrenzungen, nur den Aufbau eines riesigen Archivs imaginärer Bilder.» Aus diesem umfangreichen Fundus immaterieller Bilder geht eine zweite, authentischere Realität hervor als der Alltag mit all seinen Zwängen. Dieses fiktive Album bildet gleichsam den Beweis für die Existenz jener anderen Welt, die stets greifbarer ist und intensiver erlebt wird, als die Lebensrealität. Die junge Frau verrät niemandem auch nur ein einziges Wort von diesem Paralleluniversum, aus Angst, es sogleich entschwinden zu sehen. Prämissen unter dem Siegel der Verschwiegenheit und Rebellion.

Im Alter von 18 Jahren, nun mit einem richtigen Fotoapparat in der Hand, ist es mit den Heimlichkeiten vorbei. Durch die Kamera und ihre Handhabung verlangsamt sich der Aufnahmerhythmus. Dafür erlebt die Fotografin die Befriedigung, die Realität und die eigenen Bildwelten im Inneren des Gehäuses aufeinandertreffen zu sehen. Das Album wächst weiter und konkretisiert sich nun in Form von Negativstreifen und Abzügen. Dennoch ist die Fotografin auch weiterhin bemüht, ihre Bilder unbeobachtet aufzunehmen. Sie erhascht ihre Sujets in exakt jenem Moment, in dem deren Treiben mit ihrer inneren Vorstellung übereinstimmt. So vermag auch das Eingeständnis zur Arbeit Aus der Welt des Schlafs (2009) kaum zu überraschen: «Meinen ersten schlafenden Menschen fotografierte ich mit 17 Jahren. Wie ein Dieb schlich ich mich mitten in der Nacht zu seinem Bett und blitzte ihm ins Gesicht. Es gab mir vielleicht ein Gefühl von Macht. So besass ich ein Geheimnis, sah eine Seite von ihm, die nicht mal er selber kannte. Ich glaube, es war die Hingabe und Verletzbarkeit, das in sich Versunkene, Abwesende, was mich faszinierte und anzog an den Schlafenden.» Nicht nur das Darstellen von Verletzlichkeit, sondern auch das Ausüben von Macht und das Übertreten von Grenzen bilden die Grundlagen ihres fotografischen Vorgehens.

2001 erscheint mit The Gang eine erste Publikation. Sie versammelt rund hundert Bilder, die Erdts Kinder und deren Kameraden, Freunde, Fremde, Tiere und zuweilen auch die Fotografin selbst zeigen. Der Künstlerin zufolge sind die Protagonisten dieser Saga zwar das Hauptmotiv dieser Arbeit, nicht aber deren eigentliches Thema. Trotzdem wird The Gang für gewöhnlich als autobiographisches Werk beschrieben. Dabei hat man dem aufmüpfigen Titel bislang wenig Beachtung geschenkt, ihn in diesem Kontext als allenfalls amüsante Übertreibung interpretiert. Die Vorstellung von einer kriminellen Bande ist in den meisten Köpfen offenbar rasch beiseite geschoben, ja ignoriert worden. Unentschärft ist sie liegen geblieben, wie eine kleine tickende Zeitbombe, eine latente Quelle der Gewalt. In einer Installation, die Ruth Erdt als Abschlussarbeit ihres Master-Studiums realisiert hat, taucht das Thema wieder auf. Kinderbett, das zentrale Element der Installation, funktioniert nach dem Prinzip einer widernatürlichen Hybridisierung: 14 Sturmgewehre bilden die Struktur eines Gitterbetts. Das von The Gang aufgeworfene Thema der Gewalt ist folglich nicht bloss ein harmloses Spiel. Vielmehr prägt es das Schaffen von Ruth Erdt heute nachhaltig, oder besser: ihre Sicht auf ihre Fotografien.

Wie The Gang, so fanden auch Die Lügner – «eine Gruppe von Menschen (und Dingen), die durch meinen Blick miteinander verbunden sind» – zunächst in der Vorstellung der Fotografin zusammen. Es ist dieser Blick, der aus wechselnder Warte, doch bei gleichbleibender Stossrichtung, aus dem diffusen Fundus von Aufnahmen der letzten 25 Jahre eine Auswahl vornimmt. Er lässt einzelne Bilder auftauchen, die lange verborgen lagen, als wären sie noch inexistent, und er holt andere, jüngere, ans Licht. Die Bilder erlangen ihren Sinn und ihre Aktualität somit weniger zum Zeitpunkt der Aufnahme selbst, sondern vielmehr erst dann, wenn die Künstlerin sie aus dem Gesamtkorpus abruft und sie in einen grösseren Werkkontext integriert.

Unter den Lügnern sind einige Überläufer aus The Gang; andere hingegen sind neu mit dabei. In der Ausstellung bildet ein Dutzend frei gehängter Fotografien in Farbe und Schwarzweiss einen Prolog, der zugleich einen Gegenakzent setzt zur zentralen Installation dieser Schau, einer Doppelprojektion von Bildern – begleitet von einem von Marc Zeier (*1954) komponierten akustischen Umfeld –, die an das Flüchtige von Erdts ersten «Aufnahmen» anknüpft. Der zehnminütige Bilderfluss ohne Anfang und Ende führt Fotografien aus verschiedenen Epochen zusammen, ebenso einige Zeichnungen und neuere Fotogramme. Dank raffinierten Kombinationen schafft Ruth Erdt eine vielschichtige Abfolge, voller Anspielungen und Querverweisen. Weggelassenes oder Verstecktes, das Ungesagte, interessiert sie dabei weitaus mehr als direkt Gezeigtes. Und doch gibt es bei ihr einen Willen zur Kommunikation, der dieser Vorliebe zu widersprechen scheint. Jedes Enthüllen zieht eine Verunklärung nach sich, ein Verdecken, und die erhoffte Erkenntnis entwischt.

So gesehen ist Ruth Erdt Teil einer künstlerischen Strömung, deren Strategie das Verborgene ist. Die Vertreter dieser Richtung interessieren sich mehr für die Inszenierung des Geheimen als für seine Offenlegung. Was zählt und lockt ist die Opazität, das Undurchdringliche der Situation. In einem Zeitalter, in dem Staat und Religion kein Mysterium mehr sind, sondern zunehmend eine Sache der Öffentlichkeit, manifestiert sich das Rätselhafte mit Nachdruck in der Kunst. Oder wie es der Literaturwissenschaftler Günter Oesterle formuliert: «Je mehr die moderne Gesellschaft geprägt wurde von Aufklärung, Transparenz und allseitiger Kommunikation, um so mehr bedurfte sie eines Ortes zur Pflege ihres ‚Möglichkeitssinns‘. Denn nur das Geheimnis bietet die Möglichkeit einer zweiten Welt neben der offenbaren.»

Plakat

Plakat zur Ausstellung Ruth Erdt – Die Lügner.

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